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Liebesbrief an mein Gehirn
Mein geliebter Fremder,
einst lernte ich dich kennen, als ich jung, klein, unbedarft. Und du warst es ebenso. Du begleitetest mich von da an immerfort. Während bis an mein Lebensende. Doch bis zum heutigen Tage lernte ich dich niemals richtig kennen. Du trägst alles in dir, was mein ist, und dennoch bist du keine einzige Sekunde in meiner Reichweite. Ungreifbar. Unnahbar. Unergründlich. Dennoch wusste ich von tiefstem Herzen, du würdest mich nie verlassen. Manchmal fürchtete ich, dich zu verlieren, trotz deiner tiefen Verwurzelung, doch ebenso zeigst du mir immer wieder deiner Gegenwart. Ich bin mit dir durch Himmel und Hölle gegangen, überquerte in der Fantasie reißende Flüsse, gigantische Schluchten, idyllische Felder mit einem Himmel von der Farbe des Flieders. Nachts hieltest du mich wach, gönntest mir nicht ein einziges Mal Ruhe.
Wie sehr ich dich hasste.
Du ließest Texte, Bilder, Musik aus mir herausströmen wie Sturzbäche, errichtetest geistige Konstrukte, ließest sie einreißen, erbautest sie neu, wuchsest aus dir selbst und über dich selbst hinaus.
Wie sehr ich dich liebte.
Ich wollte dich kontrollieren, du ungebändigte, ungestüme Seele, unaufhaltsamer Strom. Du wurdest mir unheimlich, ich versuchte dein Zimmer zu verschließen, warf den Schlüssel in den Brunnen, nur um bei Anbruch des nächsten Tages einen neuen in meiner Tasche vorzufinden, der mich dazu einlud, einen neuen Tanz mit dir zu beginnen. Jeder Tanz mit dir war erotisch, du wolltest, dass ich dich greifen und mich ganz und gar frei fühlen konnte. Jeder Tanz mit dir war gefährlich, Geliebter, denn was immer du mir einflößtest konnte Gift, sowie klarstes Quellwasser sein. Dennoch bettelte ich jeden Tag um einen erneuten Versuch. Ich konnte dich niemals aufgeben, du konntest es ebenso wenig. Ich bin weit mit dir gereist. Ferne Länder, ferne Welten, ferne Gedanken. Einige Reisen habe ich allein dir zu verdanken. Du brachtest mich durch Zeit, durch Raum, ins gestern und heute. Dein Schritt forsch, ungnädig. Doch ich kam immer mit. Wir haben so viel gemeinsam. So viel gemeinsam erlebt. Doch ich fühle mich, als würde ich dich kaum kennen. Macht es dir aus, wenn wir mehr von einander erfahren. Ich wüsste gerne mehr über dich. Du bist interessant. Ich liebe dich. Und zugleich hasse ich dich. Aber ich liebe dich zu sehr, um dich gehen zu lassen. Verfasst in einer Nacht, in der du mich erneut nicht schlafen ließest.
In Liebe
Dein Ursprung, deine Heimat, dein Wesen